«Ich habe das Gefühl, eine von ihnen zu sein»

Die Post fördert die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen innerhalb und ausserhalb des eigenen Betriebs. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit der Fondation Foyer Handicap im Kanton Neuenburg, mit der Fondazione Diamante im Tessin und dem Quai 4-Markt mit Angestellten der sozialen Einrichtung Wärchbrogg in Luzern Kreuzstutz arbeitet die Post seit Kurzem mit der Fondazione OTAF im Sorengo (TI) zusammen. In Neuenburg bedienen heute Menschen mit Beeinträchtigung Kundinnen und Kunden der Post – mit viel Herzblut und Engagement.

Neu können die Einwohner des Tessiner Dorfes Sorengo ihre Postgeschäfte bei der Stiftung OTAF erledigen – eine Stiftung, die Menschen mit Beeinträchtigungen berufliche Intergrationschancen bietet. Eine aussergewöhnliche Lösung, denn die Angestellten arbeiten für die Post mit – mit viel Herzblut und Engagement. Gleichzeitig stehen aber auch andere Dienstleistungen zur Verfügung. Dazu gehören grafische und kleinere typografische Informatikdienstleistungen, die ebenfalls von OTAF-Angestellten erbracht werden, und der Verkauf von Lebensmittel und Handwerk aus den eigenen Werkstätten. Damit bleibt nicht nur die Post im Dorf, sondern fünf Menschen mit Beeinträchtigungen können in Sorengo aktiv am Arbeitsprozess teilnehmen und erhalten eine berufliche Chance.

Die Kunden der Post haben «ihren» Roberto Manera wieder, der nach der Umwandlung der Filiale von der OTAF eingestellt wurde

Die Kunden der Post haben «ihren» Roberto Manera wieder, der nach der Umwandlung der Filiale von der OTAF eingestellt wurde

 

Post will allen eine Chance geben
Der Vorsteher des Tessiner Sozialamts Renato Bernasconi betonte an der Eröffnungsfeier der Postfiliale mit Partner am 16. Mai 2019, dass mit dieser Lösung «…aus einer schwierigen Situation eine echte Chance wurde. Zwei Ziele konnten gleichzeitig erreicht werden: die Erhaltung des lokalen Postdiensts einerseits und die berufliche Intergration von Angestellten der OTAF andererseits. Es ist ein aussergewöhnliches Konzept, das allen Vorteile bringt. Das Beispiel sollte Schule machen», sagt Bernasconi. Auch Roberto Cirillo, CEO der Post freut sich über die Kooperation: «Menschen mit Einschränkungen sind für mich wertvoll. Sie bringen ebenso ihre Talente mit in die Post ein, wie Menschen, die ohne Einschränkungen leben dürfen. Diese Talente, Lebenserfahrungen und Perspektiven brauchen wir. Ich möchte eine Post, die diese Talente ebenso fördert. Für mich ist es darum selbstverständlich, dass wir als Post allen Menschen eine Chance geben.»

Die Klienten der OTAF bieten grafische und kleinere typografische Informatikdienste an.

Die Klienten der OTAF bieten grafische und kleinere typografische Informatikdienste an.

 

Die Stiftung OTAF ist seit 1917 im Tessin tätig und nimmt dort eine wichtige soziale Rolle wahr. In den eigenen Werkstätten und im Rahmen von zahlreichen Programmen bietet sie Personen mit Beeinträchtigungen echte Entwicklungs- und berufliche Eingliederungschancen.

Die Zusammenarbeit mit der Stiftung OTAF ist übrigens kein Unikum südlich der Alpen. Bereits seit 2012 arbeitet die Post mit der Fondazione Diamante zusammen. Neben zahlreichen anderen Aktivitäten betreibt sie das Lebensmittelgeschäft mit Postagentur «La Butega de la Val» in Pianezzo. Philosophie und Zweck der Stiftungen Diamante und OTAF decken sich weitgehend. Seit jeher setzen sie sich dafür ein, dass Menschen mit Beeinträchtigungen aktiv am Arbeitsprozess teilhaben können und ihre Rolle dadurch aufgewertet wird.

 

Die Poststelle war ebenfalls in diesen grosszügigen, hellen Räumlichkeiten untergebracht.

Die Poststelle war ebenfalls in diesen grosszügigen, hellen Räumlichkeiten untergebracht.

 

Post war auch in Neuenburg Vorreiter
Bereits vor zwölf Jahren wagte die Post ein damals einzigartiges Experiment im Kanton Neuenburg. Sie eröffnete bei der Neuenburger Stiftung Foyer Handicap eine Filiale mit Partner. In Neuenburg und La Chaux-de-Fonds bietet die Organisation Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen an ihre Situation angepasste Arbeitsplätze. «Die Filiale mit Partner wurde in der geschützten Werkstätte in Neuenburg eingerichtet, wo die Angestellten von sozialpädagogischen Werkstattleitern und -leiterinnen begleitet werden», erklärt Pascal Jaquet, Leiter der Poststelle und der Werkstätte von Foyer Handicap.

 

Pascal Jaquet am Schalter der Filiale mit Partner Foyer Handicap, Neuchâtel 7 Mail.

Pascal Jaquet am Schalter der Filiale mit Partner Foyer Handicap, Neuchâtel 7 Mail.

 

Trotz ihres Handycaps können so psychisch beeinträchtigte Menschen Postgeschäfte erledigen und auch Pakete aushändigen. Bei Bedarf steht ihnen eine Fachperson beratend zur Seite. Für die Menschen, die hier arbeiten, ist der direkte Kundenkontakt im realen Arbeitsumfeld eine Bereicherung. «Ich schätze den Kontakt mit den Kunden, obwohl sie manchmal etwas ungeduldig sind», erzählt Sabine*. Sie arbeitet in der Postfiliale mit Partner und fügt stolz hinzu: «Ich verrichte ähnliche Arbeiten wie die Postangestellten und habe somit auch ein wenig das Gefühl, eine von ihnen zu sein.»

Schulung in Etappen
Die Angestellten werden intern in Etappen geschult. «Wir müssen ihren Beeinträchtigungen Rechnung tragen, Stress vermeiden und ihre Autonomie bestmöglich fördern. Oft brauchen sie etwas Routine, bis sie sich bei der Erledigung der Aufgaben sicher fühlen», betont Pascal Jaquet. Die Planung der Einsatzzeiten ist etwas komplizierter, denn auch sie muss den Beeinträchtigungen der Angestellten gerecht werden.

 

Unterstützt von einem sozialpädagogischen Werkstattleiter bedient eine Angestellte von Foyer Handicap einen Kunden.

Unterstützt von einem sozialpädagogischen Werkstattleiter bedient eine Angestellte von Foyer Handicap einen Kunden.

 

«…schlicht eine geniale Idee»
Die Kunden zeigen mehrheitlich Verständnis, obwohl es vorkommt, dass sie unter Zeitdruck eine Bemerkung zum Arbeitstempo der Schalterangestellten machen. Nicht so diese Dame: «Ich bin Rentnerin und habe somit Zeit. Ich finde es super, wenn ich zur beruflichen Integration dieser Menschen beitragen kann. Zudem muss ich am Eingang kein Ticket lösen, das ist ein Vorteil».

Die Angestellten, die alle eine IV-Rente beziehen, erhalten eine kleine Entschädigung für ihre Arbeit in der Postfilialen-Werkstatt. Würden Sie es nochmals wagen? Pascal Jaquet antwortet ohne zu zögern: «Sofort! Für unsere Angestellten ist die Postfiliale schlicht genial: Sie pflegen soziale Beziehungen und erfahren Wertschätzung». Und zwischen zwei Handgriffen äussert sich Mitarbeiter Paul zufrieden: «Für diese Arbeit werde ich als vollwertige Person anerkannt.»

(*): Vorname geändert

 

Die Filiale mit der Partnerin Foyer Handicap existiert seit Juni 2007.

Die Filiale mit der Partnerin Foyer Handicap existiert seit Juni 2007.