Der schwebende Briefkasten
Kuhglocken läuten und der «Bless» bellt vom Bauernhof. So beschrieb schon Gotthelf vor 200 Jahren das idyllische Emmental; und so ist es heute noch. Doch in der einstigen Filmkulisse aus Ueli der Knecht hat sich nur vordergründig wenig verändert, denn im Emmental werden innovative Ideen umgesetzt. Einfach – urchig – handfest. Und davon profitieren auch Pöstler.
«Früher mussten wir Briefträger im Winter zuerst Schnee schippen, bevor wir die 150 Meter den Hang hinauf zum Heimetli stapfen konnten», erinnert sich Martin Wüthrich. Der 52-Jährige ist mit Leib und Seele Pöstler – oder Zusteller, wie das heute heisst. Sich durch den kniehohen Schnee kämpfen, das war einmal. Vor rund sechs Jahren änderte sich das, auch wenn Wüthrich zuerst nicht wusste, was genau da vorging.
«An einem Sommertag stand da plötzlich so ein kleiner Schuppen», schmunzelt Wüthrich beim Gedanken daran. «Keiner wusste so recht wofür und es wurde wild darüber spekuliert.» Die Gerüchteküche brodelte und manch ein Einheimischer glaubte zu wissen, was da entsteht: «Ein Plumps-Klo für Touristen», «eine Telefonzelle wird das» oder «eine Haltestelle für das Postauto» wurde gewerweisst.
Einen liess all das kalt – den damals 80-jährige Erbauer. Selbst heute noch machen er und seine Frau kein Aufhebens darum und suchen nicht die Öffentlichkeit. Die zündende Idee zur Konstruktion hatte der rüstige Senior schon vor Jahren. Nur den Plan umsetzen, das hat ein bisschen gedauert. Dann im Sommer vor sechs Jahren war es soweit: Die Säge kreischte und Hammerschläge hallten durchs Tal. Kaum war der letzte Nagel eingeschlagen und das Seil gespannt, wollte es jeder schon immer gewusst haben: Eine Seilbahn!
Doch wofür? Um Milchkannen hin- und her zu transportieren? Dort oben gab es gar keine Kühe, geschweige denn einen Kuhstall. Im Gegenteil, ins Heimetli oben am Hang waren der Seilbahn-Erfinder und seine Frau doch vor rund 16 Jahren gezogen, um einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Nachdem beide mehr als sechzig Jahre lang auf ihrem Bauernhof im Tal gekrampft und zudem noch zwölf Kinder grossgezogen hatten.
Seitdem die Seilbahn steht, müssen Wüthrich und seine Kollegen weder Schnee schippen noch durch ihn hinaufstapfen. Denn am Seil hängt keine Milchkanne sondern der Briefkasten. Diesen kurbeln das freundliche Rentner-Ehepaar jeden Tag mittels geschickt ausgetüftelter Technik von Hand zum Heimetli hinauf. «Meine Kollegen und ich gehen trotzdem dann und wann zu Fuss und bringen ihnen die Post persönlich vorbei», sagt Wüthrich. «Hier auf dem Land schaut man noch zu einander.» Und wie zu Gotthelfs Zeiten wird man dann zum Kaffee eingeladen. «Den müssen wir aber meist ablehnen. Andere warten ebenfalls auf Post und die Uhren gehen auch hier im Emmental etwas schneller als früher.»
Kategorisiert in: